Folge 10 mit Prof. Dr. Kerstin Merz-Atalik

Shownotes

Im Podcast sprechen sie über die Chancen inklusiver Bildung sowie Herausforderungen und Vorurteile, die 14 Jahre nach Inkrafttreten des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland und dem damit verbundenen klaren Bekenntnis zur Inklusion in der schulischen Bildung auch in Baden-Württemberg immer noch vorherrschen.

Prof. Dr. Kerstin Merz-Atalik: „Die Entscheidung der Vereinten Nationen für die inklusive Bildung wurde nicht aus dem Blauen heraus getroffen. Sie fußt auf Forschung und Vorbildern, überwiegend aus dem angloamerikanischen Bereich sowie differenzierten Anhörungen. Dennoch hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass Kinder mit Behinderungen in Sonderschulen besser oder mehr lernen. Das lässt sich empirisch nicht belegen. Es ist nachgewiesen, dass alle Kinder sehr stark von heterogenen Lerngruppen und Vielfalt profitieren.“ Für Sonderschulen gebe es ein Forschungsdesiderat, da kaum dazu geforscht wurde, ob diese Schulformen und ihre Pädagogik tatsächlich zu höheren Entwicklungen führen und die Kinder besser fördern können. Dennoch werde immer behauptet, dass es den Kindern dort besser geht.

Simone Fischer, Beauftragte der Landesregierung Baden-Württemberg für die Belange von Menschen mit Behinderungen, sagt: „Schule ist Lebens- und Teilhaberaum. Sie hat die bedeutsame Aufgabe, allen Kindern Bildung und Werte unserer Gesellschaft zu vermitteln. Zu unserer fortschrittlichen Gesellschaft gehört, Vielfalt und Inklusion als Bereicherung zu sehen, vor allem die Voraussetzungen dafür zu schaffen und sie schließlich auch zu leben. Inklusive Bildung ist ein Recht, das primär sichergestellt sein muss. Sie muss allen Kindern und Jugendlichen gleichermaßen zugänglich sein. Dazu brauchen wir eine gute Ausstattung der Schulen sowie Lehrerinnen und Lehrer, die sich zutrauen, inklusiv zu arbeiten.“

Im Podcast berichtet Prof. Dr. Kerstin Merz-Atalik von vorbildlichen Beispielen aus Portugal, Südtirol und Finnland, die zeigen, wie neben dem Wissenserwerb auch Respekt, Partizipation, die aktive Gestaltung des eigenen Lebens und soziale Interaktion im Schulalltag aller Kinder eine wichtige Rolle spielen. Diese Schulen sind zentrale Orte der Gemeinden. Erhebungen zeigen: Dort, wo Lehrkräfte gerne arbeiten, ist Schule neben einem Ort des Lernens immer auch Kommunikations- und Wohlfühlraum, der Werte einer Gemeinschaft nicht nur im Unterricht vermittelt, sondern auch lebt. „Dazu braucht es klare Vorgaben der Bildungspolitik, eine Strategie, Timeline und Messwerte. Schulen können inklusive Pädagogik nur entwickeln, wenn sie multiprofessionelle Teams haben und dafür ausgestattet sind. Auch eine Sonderschule kann morgen anfangen, alle Kinder, die keine Behinderung haben, aus dem Wohneinzugsgebiet aufzunehmen. Das ist nicht nur ein One-Way-Ticket für die Regelschulen“, so Prof. Dr. Kerstin Merz-Atalik.

Simone Fischer: „Wir müssen hier weiter vorankommen. Inklusion ist unser aller Auftrag. Neben den Regeleinrichtungen sind immer auch Sonderformate aufgefordert, sich zu öffnen und Inklusion umzusetzen.“

Laut Prof. Dr. Merz-Atalik liege ein zentraler Aspekt auf dem Lehrerbildungssystem, das so strukturiert sein müsse, dass es einem inklusiven Bildungssystem entspricht. Dazu müsse es flexiblere Studiengänge ermöglichen, die Lehramtsstudierende nicht sortieren. „Schultypenspezifische Lehrämter sind in einem inklusiven Bildungssystem fehl am Platz.“ Stattdessen müsse es Angebote in allen stufenbezogenen Lehrämtern geben, zur Professionalisierung für inklusive Bildung sowie für zusätzliche Kompetenzen wie beispielsweise Mehrsprachigkeit, Behinderung und weitere. Dass dies funktioniere zeige das Nachbarland Österreich. In Studienstätten wie Bielefeld oder Berlin könne man vorbildlich das Grundschullehramt oder Sekundarstufenlehramt parallel zum Sonderpädagogiklehramt studieren, die Studienstrukturen seien zusammengeführt worden. „Ein solches Ausbildungssystem ist zukunftsfähig und inklusionsfähig.“

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00:00:00: Simone Fischer: Ich freue mich riesig, heute Frau Prof. Dr. Kerstin

00:00:03: Merz-Atalik zu begrüßen. Frau Merz-Atalik, Sie haben zunächst

00:00:07: Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Sonderpädagogik in

00:00:10: Marburg studiert. Sie haben dann einige Jahre an

00:00:14: Berliner Grundschulen die Inklusion von Kindern unterstützt.

00:00:18: Nach einigen Jahren als Lehrbeauftragte an der Technischen

00:00:21: Universität Berlin waren Sie wissenschaftliche Mitarbeiterin

00:00:24: der Uni Halle und haben eine Professur für Allgemeine Heil-

00:00:28: und Sonderpädagogik an der Uni Gießen vertreten.

00:00:31: Seit 2004 sind Sie bei uns in Baden-Württemberg Professorin an der

00:00:36: Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Und Sie haben den Schwerpunkt

00:00:40: Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung, Inklusion.

00:00:45: Sie lenken stetig den Fokus auf das Positive und können auch von guten

00:00:49: und bereichernden Beispielen in Baden-Württemberg berichten und können

00:00:53: auch benennen, wo es noch hakt. Ich freue mich sehr auf das heutige

00:00:57: Gespräch mit Ihnen, liebe Frau Merz-Atalik. Kerstin Merz-Atalik: Vielen Dank für die freundliche

00:01:01: Begrüßung, Frau Fischer. Ich freue mich auch.

00:01:05: Simone Fischer: Sie sind ausgewiesene Expertin in Sachen Inklusion an der Schule.

00:01:09: Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen auf

00:01:12: der Lehrerbildung für Inklusion, der inklusiven Schulentwicklung,

00:01:16: der Teamarbeit und Kooperation von Pädagog*innen im inklusiven

00:01:20: Unterricht. Möchten Sie sich unseren

00:01:23: Zuhörer*innen kurz vorstellen? Was lässt Sie denn für Ihre Aufgabe brennen?

00:01:26: Kerstin Merz-Atalik: Ja, gerne tue ich das. Ich bin eigentlich studierte

00:01:32: Sonderpädagogin und habe damals den Abschluss gemacht und bin dann nach

00:01:36: Berlin gegangen und wollte in Berlin über ein Projekt eine Diplomarbeit

00:01:41: schreiben, weil ich parallel hier auch Erziehungswissenschaften

00:01:44: studiert habe, und musste dringend, um meinen Alltag zu finanzieren,

00:01:49: in Berlin eine Arbeit finden. Und so bin ich eigentlich

00:01:53: zufällig zum gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und

00:01:56: ohne Behinderung gekommen. Denn in Berlin hat man damals,

00:02:00: Ende der 80er-Jahre, dringend Sonderpädagogen gesucht, die in

00:02:04: integrativen Grundschulen arbeiten. Und ich bin damals sehr froh gewesen

00:02:10: über diese Erfahrungen, die ja dann später auch meine komplette

00:02:14: Berufsbiografie geprägt haben. Ich bin ein bisschen in den

00:02:20: Brunnen geworfen worden und musste schwimmen.

00:02:23: Ich hatte keine Ahnung durch mein eigenes Studium,

00:02:25: keine Vorerfahrungen, Vorkenntnisse. Es waren einfach die frühen Jahre,

00:02:31: wo man auch noch von Integration und gemeinsamem

00:02:34: Unterricht gesprochen hat. Ich habe sehr viele positive

00:02:38: Erfahrungen machen können, aber auch natürlich in einer Zeit,

00:02:42: in der vieles noch nicht so vorgegangen gewesen ist,

00:02:46: die ganzen Wege, wie das jetzt heute ist.

00:02:51: So bin ich zu dem Thema gekommen und habe dann später auch angefangen

00:02:54: zu promovieren. Und genauso zufällig bin ich an

00:02:58: die Hochschule gekommen, weil ich dann eben ...

00:03:01: In Berlin hat man dann den Pflichtschein eingeführt zum

00:03:04: gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung,

00:03:07: so hieß das damals noch. Das war eben Anfang der 90er-Jahre.

00:03:11: Und ich habe dann abends einen Anruf von der Technischen

00:03:14: Universität bekommen, denn in Berlin mussten alle Hochschulen

00:03:18: für alle Lehramtsstudien- gänge dieses Lehrangebot ausbringen.

00:03:22: Ja, und ich hatte nie vor, (lacht) an die Hochschule zu gehen.

00:03:24: Es war also ein großer Zufall. Aber es hat mir dann auch sehr

00:03:27: viel Spaß gemacht, die Arbeit mit den Studierenden und auch

00:03:31: dieses Thema weiterzuentwickeln. Und dem bin ich bis heute

00:03:35: treu geblieben. Simone Fischer: Ja, wenn man so sieht,

00:03:38: die UN-Behindertenrechts- konvention wurde ja im Jahr 2009 von Deutschland

00:03:43: ratifiziert, also unterschrieben und hat Wirkung entfaltet.

00:03:48: Der Fachausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen

00:03:51: mit Behinderungen prüft auch regelmäßig den Stand der Umsetzung

00:03:55: der UN-Behindertenrechts- konvention in den Staaten, die die UN-BRK

00:03:59: unterzeichnet haben, eben auch Deutschland.

00:04:02: Und in Bezug auf die Bildung wird Deutschland regelmäßig kritisiert.

00:04:07: Woran liegt das denn aus Ihrer Sicht? Kerstin Merz-Atalik: Da gibt es verschiedene Ursachen.

00:04:12: Ich denke, dass wir im Vergleich zu anderen Staaten international

00:04:17: ein sehr viel ausgewieseneres und entwickelteres Sonderschulsystem,

00:04:23: aber auch ein System der Behindertenfürsorge entwickelt hatten zu dem

00:04:28: Zeitpunkt wie viele andere Länder. Also ich denke, in Industrienationen

00:04:34: war das auch so, wenn wir jetzt nach Amerika gucken oder

00:04:38: nach Australien oder auch in andere Industrienationen in Europa. Aber in

00:04:42: vielen anderen Ländern gab es eben keine so ausgeprägten eigenständigen

00:04:48: Sonderschulsysteme wie bei uns. Das heißt, wir haben 2009 einen

00:04:52: Ausgangszeitpunkt gehabt, zu dem wir schon ein System tradiert

00:04:56: hatten, historisch entwickelt, inklusive der Professionen,

00:05:01: die in diesem System gearbeitet haben, der Verwaltungsstrukturen

00:05:05: in der Schulverwaltung, von der oberen Schulverwaltung,

00:05:09: also den Ministerien, über die Schulverwaltungen in den Schulregionen

00:05:13: bis hin zu den Lehrkräften. Und auch die Kooperation

00:05:18: zwischen dem vorschulischen Bereich und der Schule,

00:05:21: das war einfach historisch schon viele Jahrzehnte tradiert.

00:05:25: Und es ist immer schwer, solche eingegangenen Pfade dann

00:05:30: eben abzubrechen und neue Wege einzuschlagen.

00:05:34: Ich denke, das zeigt sich im internationalen Vergleich, dass

00:05:39: wir da einen anderen Ausgangspunkt hatten als viele andere Länder.

00:05:43: Das ist eine Ursache. Eine andere Ursache ist,

00:05:46: dass wir auch im Vergleich zu den internationalen Ländern ein

00:05:51: sehr viel stärkeres selektives Bildungssystem haben.

00:05:55: Jeder von uns kennt dieses Bildungssystem, auch ich.

00:05:58: Ich bin ja auch durch dieses Bildungssystem gegangen.

00:06:02: Und wir sind sozialisiert in diesem

00:06:04: Bildungssystem. Es erscheint der

00:06:07: Mehrheit der Bevölkerung normal, dass Kinder eben selektiert werden

00:06:12: nach ihren schulischen Leistungen in unterschiedliche Schultypen.

00:06:18: Und das wird oder wurde zwar seit den 60er-Jahren immer mal

00:06:23: wieder in Phasen hinterfragt, aber letztendlich muss man schon sagen:

00:06:27: Auch das hat sich sehr stark historisch tradiert bei uns,

00:06:31: und es ist auch hier schwer, neue Pfade und Wege zu gehen.

00:06:35: Wir haben ja in Baden-Württemberg erst sehr spät Gemeinschaftsschulen

00:06:39: entwickelt, sehr spät zum Beispiel im Vergleich zu Hessen.

00:06:43: Ich selber bin ja mittlerweile schon fast 60 Jahre (lacht) alt und bin

00:06:49: selber in eine Gesamtschule gegangen in meiner Schulzeit.

00:06:53: Also von daher erscheint mir das in Baden-Württemberg spät, dass hier

00:06:58: die Gemeinschaftsschulen erst vor wenigen Jahren entstanden sind.

00:07:02: Dadurch haben wir im Bildungssystem eine Kultur,

00:07:07: die es für alle in der Bevölkerung normal erscheinen lässt,

00:07:12: dass man Kinder in den Schulen, aber auch zwischen Schulen eben

00:07:17: entsprechend ihrer Leistungen sortiert, in Lerngruppen, in Klassen,

00:07:22: auch das Jahrgangsklassen- Prinzip. Dazu muss man sagen: Alleine

00:07:27: in Europa gibt es nur drei Länder, die so früh selektieren, das sind

00:07:31: eben Österreich, Deutschland und Ungarn. In allen anderen Ländern wird

00:07:36: entweder erst sehr viel später, erst ab dem siebten oder achten

00:07:39: Schuljahr selektiert - oder gar nicht. Es gibt auch Länder, die bis

00:07:43: über die komplette Pflichtschulzeit eben die Kinder gar nicht

00:07:47: selektieren in verschiedene Schulen. In einem solchen selektiven

00:07:52: Schulsystem erschien es auch normal, dass man eben spezifische

00:07:56: Schultypen entwickelt für spezifische Schüler*innen und

00:08:00: deren besondere Bedürfnisse. Und solange wir eben an diesem

00:08:05: selektiven Bildungssystem generell festhalten, stellt sich auch die

00:08:10: Frage: Warum sollte ein Kind mit einer sogenannten geistigen

00:08:14: Behinderung eine Regelschule besuchen oder eine Realschule besuchen,

00:08:19: aber ein Hauptschüler nicht? Also es stellt immer wieder die

00:08:25: generellen Strukturen unseres Bildungssystems infrage.

00:08:28: Von daher, denke ich, kann man das eine nicht ohne das

00:08:33: andere denken. Und solange wir eben

00:08:35: bildungspolitisch nicht hinterfragen, ob ein selektives Bildungssystem

00:08:39: wirklich bessere Leistungen erzeugt bei den Kindern und

00:08:43: bessere Bildungslaufbahnen fördert, werden wir sicherlich auch im

00:08:48: Hinblick auf Inklusion keine großen Schritte machen können.

00:08:54: Simone Fischer: Jetzt sind wir im Jahr 13 nach Unterschrift der

00:08:58: UN-Behindertenrechtskonvention. Und da wäre ja die Frage: Inwiefern

00:09:03: gibt es denn auch schon Bestätigungenoder auch Überlegungen oder auch

00:09:08: Erkenntnisse, dass es sich lohnt, einen Blick darauf zu werfen,

00:09:14: ob es die Selektion (lacht) in dieser Form braucht oder ob auch

00:09:18: Verbesserungen hinsichtlich des gemeinsamen Lernens erwiesen sind.

00:09:25: Kerstin Merz-Atalik: Also ich denke, es hält sich hartnäckig (lacht) - da

00:09:29: gibt es ein ganz starkes Beharrungsvermögen -

00:09:32: die Vorstellung, dass Kinder mit spezifischen Lernbedürfnissen

00:09:35: oder mit Behinderungen eben in Sonderschulen besser

00:09:40: lernen oder mehr lernen. Und das lässt sich aber

00:09:44: empirisch nicht belegen. Also wir wissen mittlerweile auch

00:09:47: in Deutschland ... Denn die frühere Integration oder der gemeinsame

00:09:53: Unterricht waren unter einem sehr starken Legitimationsdruck:

00:09:56: Ist das denn überhaupt gut für die Kinder, wenn sie im gemeinsamen

00:09:59: Unterricht unterrichtet werden? Und deswegen gibt es seit Mitte

00:10:03: der 80er-Jahre eine Vielzahl von Publikationen und

00:10:07: Forschungsprojekten, die immer wieder nachgewiesen haben,

00:10:11: dass die Kinder eben sehr stark profitieren von den heterogenen

00:10:15: Lerngruppen, also von Lerngruppen, in denen nicht alle Kinder die

00:10:19: gleichen Lernbedürfnisse haben, sondern eben von der Vielfalt in

00:10:24: der Klasse profitieren. Dennoch ist es so, dass wir sagen

00:10:29: müssen: In der Sonderpädagogik oder in Sonderschulen gibt es ein

00:10:33: absolutes Forschungsdesiderat. Das gilt nicht nur für Deutschland,

00:10:38: sondern generell für die deutschsprachigen Länder,

00:10:41: dass man sehr wenig dazu geforscht hat, ob diese Schulformen und

00:10:45: die Pädagogik dort tatsächlich zu höheren Entwicklungen und

00:10:50: Leistungen der Kinder führen und die Kinder besser fördern können.

00:10:54: Dennoch wird es immer behauptet. Also es gibt hier so

00:10:57: professionelle Selbstbehauptungen, dass es den Kindern dort besser geht.

00:11:03: Das lässt sich aber, wie gesagt, weder durch internationale noch

00:11:06: durch nationale Befunde bestätigen. Und man muss schon sagen,

00:11:10: dass die UN diese Entscheidung für die inklusive Bildung nicht

00:11:15: vollkommen aus dem Blauen heraus getroffen hat, sondern es hat auch

00:11:20: davor Anhörungen gegeben dazu. Und die Forschung lag schon vor, aus

00:11:24: dem angloamerikanischen Bereich, dass Kinder, die unterschiedliche

00:11:29: Leistungsentwicklungen haben, wirklich profitieren von der

00:11:33: Vielfalt in der Klasse. Kinder lernen halt nicht nur von

00:11:36: den Lehrkräften und von dem, was im Curriculum steht und an der Tafel,

00:11:41: sondern sie lernen unglaublich viel von den Mitschülern.

00:11:45: Wir wissen zum Beispiel aus Studien, dass gerade Kinder mit sogenannten

00:11:49: kognitiven Beeinträchtigungen oder, wie man bei uns oft noch sagt, geistigen

00:11:52: Behinderungen sehr stark von dem gemeinsamen Unterricht profitieren

00:11:57: im Hinblick auf ihre Sprach- und Kommunikations- kompetenzen. Warum?

00:12:02: Weil sie eben in der Gemeinschaft mit Kindern lernen zu kommunizieren,

00:12:08: und eben nicht nur durch eine Lehrperson, die eben im

00:12:11: Klassenzimmer vor ihnen steht. Ähnlich verhält sich das auch im

00:12:15: Förderschwerpunkt Lernen, dass wir sehr viele Studien haben,

00:12:19: die nachweisen, dass die Kinder, selbst wenn sie in

00:12:22: Regelschulen verbleiben, ohne sonderpädagogische

00:12:26: Unterstützung, größere Leistungsfortschritte machen können.

00:12:30: Und das liegt eben an dem Modell Lernen,

00:12:32: an dem Lernen durch die Mitschüler. Und es liegt auch ein bisschen daran:

00:12:38: Wir haben in unserem Sonderschulsystem die reduzierten Bildungspläne.

00:12:42: Und davon bin ich wirklich kein Fan, weil ich denke, in einer

00:12:45: demokratischen Gesellschaft sollte jedes Mitglied dieser Gesellschaft

00:12:50: den gleichen Anspruch auf Bildung haben, das gleiche Recht auf Bildung.

00:12:54: Und es ist eine Herausforderung, die Bildungsinhalte so zu differenzieren,

00:12:59: dass jedes Gesellschaftsmitglied teilhaben kann daran.

00:13:03: Aber dieser Aufgabe dürfen wir uns nicht entziehen.

00:13:07: Ich habe gerade eine Stellungnahme geschrieben vor zwei Jahren zum

00:13:11: Curriculum für den Förderschwerpunkt Lernen, warum eben das Thema

00:13:16: "Sustainable Development", also nachhaltige Entwicklung,

00:13:18: da nicht vorkommt. Warum sollen Gymnasialschüler sich

00:13:22: mit dem Thema auseinandersetzen und Realschüler und andere, aber Kinder,

00:13:27: die diese Schulform besuchen ... Es ist doch für uns alle,

00:13:31: für die gesamte Gesellschaft eine Herausforderung,

00:13:34: der wir uns stellen müssen. Und da sollte man auch keine

00:13:38: Schülerpopulation außen vor lassen. Also ich denke, wir lernen in Vielfalt

00:13:43: und mit Vielfalt, denn auch die sogenannten nicht behinderten Kinder,

00:13:48: das weiß man mittlerweile aus der Forschung, haben dadurch keinen Nachteil.

00:13:53: Sie haben nur einen Nachteil, wenn der Unterricht eben nicht

00:13:56: differenziert ist. Wenn die Organisationsstruktur in

00:14:00: der Schule nicht so angelegt ist, dass man mit der Vielfalt der

00:14:04: Kinder umgeht, dann kann es zu Nachteilen für diese Kinder kommen.

00:14:08: Also im gleichschrittigen Lernen ist es schwierig,

00:14:11: Inklusion umzusetzen. Simone Fischer: Jetzt sind Sie schon auf ein

00:14:16: paar Chancen eingegangen, die die Inklusion für Kinder mit

00:14:19: und ohne Behinderung bringt. Ganz oft begegnet mir eher die Frage,

00:14:25: die mit der Inklusion zusammenhängt, ja, es wird eher unter dem Fokus

00:14:30: diskutiert: Was bringt es für Kinder mit Behinderung und wo ist die

00:14:34: Chance eben für Kinder ohne Behinderung? Das fand ich jetzt wirklich auch

00:14:40: noch mal einen wichtigen Hinweis. An welchen Stellschrauben können

00:14:45: wir denn aus Ihrer Sicht drehen, sodass sich wirklich auch eine

00:14:48: spürbare Veränderung für alle Kinder einstellt?

00:14:53: Kerstin Merz-Atalik: Also zunächst hat die UN uns ja auch aufgegeben, dass wir

00:14:59: Entwicklungspläne entwickeln. Also wir sollen ja konkrete Schritte

00:15:04: planen dazu, wie wir das umsetzen. Wir haben die Aktionspläne in

00:15:08: den Bundesländern, in denen aus meiner Sicht das Thema

00:15:12: "Bildung" viel zu wenig tangiert wird. Es wird zu wenig konkret

00:15:17: aufgegriffen das Thema "inklusive Bildung".

00:15:21: Wenn wir jetzt zum Beispiel den Aktionsplan aus

00:15:23: Baden-Württemberg nehmen, dann werden da Beispiele beschrieben.

00:15:27: Es wird auch beim Bundesaktionsplan beschrieben, welche Initiativen das

00:15:34: Land bereits in diese Richtung macht. Aber es wird weder eine konkrete

00:15:39: zeitliche Planung angestrebt, dass man sagt: Wir wollen das entwickeln bis ...

00:15:44: In den nächsten fünf Jahren soll "das" erreicht sein, in den

00:15:48: darauffolgenden zwei Jahren "das". Es gibt keine konkrete Timeline für

00:15:52: die Umsetzung und es gibt auch keine konkreten Transformationsstrategien.

00:15:59: Also jedes Bundesland in Deutschland setzt auf ganz andere

00:16:03: Transformationsstrategien. Und wir merken eben ... Dazu gibt es

00:16:08: ja vielfältige Vergleichsstudien zu den Bundesländern mittlerweile,

00:16:13: zum Beispiel von Klaus Klemm, 2021, oder von Rackles, auch 2021, die die

00:16:21: Bundesländer verglichen haben. Und es ist schon überraschend,

00:16:26: in welchem unterschiedlichen Entwicklungsstand sich die

00:16:29: Bundesländer befinden. Während einige Bundesländer konkret

00:16:33: die Entscheidung getroffen haben, auch einen Ressourcentransfer

00:16:37: vorzunehmen, aus dem Sonderschulsystem in die inklusiv arbeitenden

00:16:42: Schulen, haben andere Länder das überhaupt ausgeschlossen.

00:16:46: Es gibt mittlerweile sieben Bundesländer, in denen Grundschulen

00:16:51: eine sonderpädagogische Grundversorgung bekommen.

00:16:54: Nicht erst, wenn ein Kind angemeldet wird mit einer sogenannten

00:16:57: Behinderung, sondern da geht man einfach davon aus, dass diese

00:17:01: Grundschulen auch inklusive Pädagogik nur entwickeln können,

00:17:05: wenn sie multiprofessionelle Teams haben und dafür ausgestattet sind.

00:17:10: Diese unterschiedlichen Strategien und die unterschiedlichen

00:17:13: Gesetzgebungen ... Wir sind ja leiderauch ein Bundesland, in dem der

00:17:18: inklusive Unterricht nicht vorrangig im Schulgesetz verankert ist.

00:17:23: Wir haben ja auch mittlerweile in der Mehrheit der Bundesländer,

00:17:27: dass Inklusion Vorrang hat, ganz gemäß der

00:17:30: UN-Behindertenrechtskonvention. Wenn wir diese bildungspolitischen

00:17:35: Strategien nicht konsequent setzen, also die Vorgaben machen,

00:17:40: dann wird sich wahrscheinlich auch in den nächsten fünf Jahren noch

00:17:43: nicht in dem Zuge was entwickeln. Wir müssen ja leider sagen, dass

00:17:48: Baden-Württemberg eines von zwei Bundesländern ist,

00:17:52: in denen der Anteil der Kinder, die an Sonderschulen unterrichtet werden,

00:17:56: seit 2009 sogar zugenommen hat. Das hat damit zu tun,

00:18:01: dass wir in einigen Jahren einen Schülerrückgang hatten,

00:18:05: generell, aber der absolute Anteil, also die absolute Zahl der Schüler,

00:18:10: die Sonderschulen besuchen, ist relativ gleich geblieben.

00:18:14: Es gab eine gewisse Umverteilung zwischen verschiedenen

00:18:17: Sonderschultypen, aber ... Und das ist natürlich auf keinen

00:18:22: Fall etwas, was mit der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar ist.

00:18:26: Es ist eine Menschenrechtskonvention, muss man auch wieder sagen, dass

00:18:30: inklusive Bildung ein Menschenrecht ist, und von daher muss man

00:18:35: die Kritik auch ein bisschen scharf formulieren und sagen:

00:18:41: Wenn in der UN-Behindertenrechtskonvention,

00:18:43: die wir ratifiziert haben, steht, dass wir die Sonderschule oder

00:18:49: die Schüler an Sonderschulen reduzieren sollen, aber im

00:18:52: gleichen Zeitraum das Gegenteil tun, dann muss man sagen: Wir haben

00:18:57: das Ziel nicht erreicht. Also es braucht klare Vorgaben von

00:19:01: der Bildungspolitik, auch Messwerte, eine Timeline,

00:19:08: dass man sagt: Wir gucken jetzt, ob wir die nächsten fünf Jahre das

00:19:12: damit erreichen. Und vielleicht auch noch mal Nachjustierungen,

00:19:18: wenn man feststellt: Die Strategien waren nicht erfolgreich.

00:19:22: Und wie gesagt, es gibt ja Bundesländer, in denen mittlerweile

00:19:26: nur noch sehr wenige Kinder überhaupt eine Sonderschule besuchen.

00:19:30: Und vielleicht sollte man mal gucken: Mit welchen Strategien hat man

00:19:34: es dort erreicht, mehr Kinder in inklusiven

00:19:38: Bildungsangeboten zu fördern? Simone Fischer: Das wäre meine nächste Frage gewesen.

00:19:43: Was machen denn andere Bundesländer anders oder vielleicht auch besser

00:19:47: bei der Inklusion? Ist es vielleicht eine Frage der Haltung,

00:19:50: der Politik, der Ressourcen? Kerstin Merz-Atalik: Das eine habe ich ja schon

00:19:56: gesagt: Es geht um eine Ressourcenausstattung der Regelschulen

00:20:01: oder auch Sonderschulen. Also auch eine Sonderschule kann

00:20:04: morgen anfangen, alle Kinder, die keine Behinderung haben, aus dem

00:20:07: Wohneinzugsgebiet aufzunehmen. Das ist mir immer ganz,

00:20:10: ganz wichtig, dass das nicht nur ein One-way-Ticket für die Regelschulen ist.

00:20:15: Aber wir brauchen diese Ressourcen dazu und wir brauchen auch eine

00:20:18: Sicherheit über diese Ressourcen. In Baden-Württemberg ist ja die

00:20:22: Zuweisung von Lehrerstunden allzu oft noch daran gebunden,

00:20:28: dass eben Kinder etikettiert werden und dass ein Kind einen

00:20:30: spezifischen Förderbedarf hat. Wir wissen aber doch, dass eine

00:20:34: bestimmte Prozentzahl von Kindern in jedem Wohneinzugsgebiet, in

00:20:38: manchen höher, in manchen niedriger, eben besondere Bedürfnisse hat.

00:20:43: Wenn wir also wollen, dass diese Grundschulen - und ich

00:20:45: fange jetzt mit den Grundschulen an - sich in die Richtung entwickeln,

00:20:49: dann ist es total wichtig, dass an diesen Schulen eben auch die

00:20:52: Ressourcen dafür vorhanden sind. Die Schulen sollten aber,

00:20:56: wenn sie diese Ressourcen bekommen, auch pädagogische Konzepte vorlegen,

00:21:01: die nachweisen. Also ich sage mal so,

00:21:03: wenn jemand zusätzliche Sonderpädagogenstellen bekommt, dann

00:21:07: sollte er sich auch verpflichten, Kinder mit diesem sonderpädagogischen

00:21:11: Förderbedarf aufzunehmen, und nicht andere Kinder etikettieren.

00:21:17: Und ein zweites Thema, was mir sehr am Herzen liegt und wofür ich mich

00:21:21: wirklich auch starkmache, ist, dass wir aufhören müssen,

00:21:26: Lehrertypen zu produzieren. Bei uns in der Hochschule

00:21:31: hier ist es aktuell immer noch so, dass wir eben die

00:21:35: Regelschullehrer ausbilden und die Sonderpädagogen ausbilden.

00:21:38: Und die Gymnasial- schullehrer werden eben an der Universität

00:21:42: in Stuttgart ausgebildet. Diese Lehramtstudiengänge,

00:21:47: diese Lehrertypen symbolisieren ja, dass jemand nur professionalisiert

00:21:53: ist für eine spezifische Schülerpopulation oder für einen

00:21:58: spezifischen Schultyp. Und ich glaube,

00:22:01: wenn wir diese Logik brechen, also flexiblere Studiengänge

00:22:07: entwickeln und eben nicht mehr die Lehramtsstudierenden

00:22:12: sortieren, dann werden wir in Zukunft

00:22:17: zumindest langfristig eben auch Lehrkräfte haben, die sich zutrauen,

00:22:22: inklusiv zu arbeiten. Aktuell ist es so, dass eben die

00:22:26: Regelschulenlehrkräfte sagen: Dafür fühle ich mich nicht qualifiziert.

00:22:31: Während meine Sonderpädagogik- Studenten, die dann in die Praktika

00:22:35: gehen und zufällig in einem inklusiven Bildungsangebot landen,

00:22:40: dann eben sagen: Oh Gott, dafür bin ich nicht

00:22:42: professionalisiert. Das Lehrerbildungssystem

00:22:47: heute müsste eigentlich so umstrukturiert werden, dass es einem

00:22:51: inklusiven Bildungssystem entspricht. Das tun einige Bundesländer.

00:22:55: Ich will jetzt mal einen Studienstandort nennen,

00:22:58: Bielefeld beispielsweise. Dort kann man das Grundschullehramt

00:23:02: und das Sonderpädagogiklehramt parallel studieren.

00:23:06: In Berlin kann man Grundschullehramt und Sekundarstufen-

00:23:09: Lehramt parallel studieren. Die unterscheiden auch nicht mehr

00:23:12: die Lehrämter im Studium, in den Studiengängen nach Hauptschule,

00:23:16: Realschule, Gesamtschule oder Gymnasium, sondern dort hat man

00:23:20: das auch zusammengeführt in den Studienstrukturen.

00:23:25: Und ich denke, das ist zukunftsfähig und inklusionsfähig, ein solches

00:23:29: Ausbildungssystem. Simone Fischer: Sie hatten unter anderem - nicht nur,

00:23:35: aber unter anderem - die Ressourcen angesprochen.

00:23:38: Und im Moment wird ganz viel auch eben gesprochen:

00:23:41: Wo kann man noch mal überprüfen, wo muss man vielleicht Standards

00:23:44: absenken, wo muss man noch mal genau hinschauen?

00:23:48: Was kann man denn aus Ihrer Sicht auch begegnen, an Chancen,

00:23:54: die darin stecken. Aber eben auch die Weiterentwicklung

00:23:58: dennoch auch in diesen Zeiten voranzubringen und zu investieren?

00:24:02: Kerstin Merz-Atalik: Ich möchte da ein Beispiel bringen von einer Schule.

00:24:06: Ich glaube, es ist in Schwäbisch Hall gewesen, eine Grundschule,

00:24:10: die vor einigen Jahren angefangen hat, auch Kinder aufzunehmen

00:24:14: mit Förderbedarf im Bereich Förderschwerpunkt Lernen oder

00:24:17: auch Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen oder die im

00:24:20: Rollstuhl gesessen haben. Und die hatten von Anfang an

00:24:23: nicht die ideale Ausstattung. Und die Schule hat sich überlegt:

00:24:27: Wie können wir trotzdem diese Kinder an der Schule fördern?

00:24:30: Und kreativ, wie man war damals, das ist jetzt wirklich

00:24:34: auch schon zehn oder zwölf Jahre her, hat man sich überlegt,

00:24:38: dass man Großklassen einrichtet. Man wollte gerne in einer Großklasse

00:24:44: mit 45 Schülern drei Pädagogen haben. Man hat also die

00:24:49: Organisationsstruktur innerhalb der Schule verändert,

00:24:52: um die Ressourcen, die man hatte, besser zu nutzen, um inklusive

00:24:57: Bildungsangebote zu gestalten. Ich sage mal, das ist nicht das Ideal.

00:25:01: Wir müssen immer fordern, dass wir ein ähnliches Lehrer-

00:25:04: Schüler-Verhältnis bekommen wie andere europäische Länder,

00:25:09: die auch besser abschneiden bei Pisa. Also es wird immer so gesagt:

00:25:12: Es stimmt gar nicht, dass das Lehrer-Schüler-Verhältnis

00:25:15: eine Rolle spielt. Das ist mittlerweile widerlegt.

00:25:18: International weiß man, dass das Lehrer-Schüler-Verhältnis

00:25:22: eine große Rolle spielt. Und wir haben ein sehr ungünstiges

00:25:25: Lehrer-Schüler-Verhältnis im internationalen Vergleich,

00:25:28: also ziemlich große Klassen. Aber diese Schule hat es aufgelöst

00:25:33: und sie haben gesagt: Wir werden einfach eine Unterrichtsstruktur

00:25:38: aufbauen, in der die Kinder immer phasenweise im

00:25:44: eigenständigen, im selbst angeleiteten Lernen arbeiten, und dann wird ein

00:25:49: Teil dieser Großklasse eben von einer Lehrkraft begleitet

00:25:53: und Kinder, die gefördert werden, eben von der dritten Lehrkraft.

00:25:57: Ich denke, hier gibt es wirklich auch international sehr

00:26:01: kluge Vorbilder und Strukturen, wie man diese Dinge umsetzen kann.

00:26:04: Denn ich sage mal, Portugal beispielsweise ist in Sachen

00:26:10: Inklusion sehr weit entwickelt. Die haben aber keine bessere

00:26:14: Lehrerausstattung in den Schulen, als wir es haben.

00:26:18: Aber sie haben sich eben aufgrund dieser Notlage oder dieser

00:26:22: Ausgangssituation kreativere Organisationskonzepte überlegt, wie

00:26:27: sie das innerhalb der Schulen machen. Ich denke, ganz wichtig wären auch

00:26:32: Ganztagsschulen, einfach flexiblere Angebotszeiten für die Schulen.

00:26:37: Ich verwende in meinen Vorträgen immer ein Beispiel einer finnischen

00:26:40: Schule, die es so gemacht hat: Statt kleinere

00:26:46: Klassen generell einzurichten, hat sie die Klasse immer geteilt

00:26:50: in zwei Arbeitsgruppen, also Ryhmä 1 und Ryhmä 2.

00:26:54: Mein Finnisch ist bestimmt schlecht, aber ... (lacht)

00:26:57: Und dann hat man einfach gesagt, die Ryhmä 1, also die eine Hälfte

00:27:01: der Klasse, fängt in der ersten Stunde an und die andere

00:27:04: Hälfte der Klasse wird eben am Tag

00:27:08: etwas länger unterrichtet. Also man hat ohne zusätzliche

00:27:12: Ressourcen durch so eine andere Organisations- struktur die

00:27:16: Möglichkeit geschaffen, auch in kleineren Lerngruppen zu arbeiten.

00:27:20: Da müssen wir noch mehr Beispiele in die Schulen bringen,

00:27:23: wie man so was machen kann - unabhängig davon, ich sage es noch

00:27:26: mal, dass wir bildungspolitisch eine gute Ausstattung der

00:27:30: Schulen fordern müssen. Simone Fischer: Mich erreichen viele Rückmeldungen

00:27:36: von Eltern, denen, finde ich, schon auch viel zugemutet wird,

00:27:40: wenn sie den inklusiven Weg beschreiten möchten und ihr Kind

00:27:45: inklusiv beschulen möchten und gleichzeitig eben auch sehr

00:27:50: stark kämpfen müssen und dann nach einer gewissen Zeit

00:27:54: doch überlegen, den Weg in die Exklusion zu gehen, wo es sicher

00:27:59: sehr kompetente Sonderpädagog*innen und auch Fachkräfte gibt.

00:28:05: Aber es ist eben die Exklusion. Wie stehen Sie denn zu unserem

00:28:09: Parallelsystem und was raten Sie Eltern aus Ihrer Perspektive,

00:28:15: die vor dieser Entscheidung stehen? Kerstin Merz-Atalik: Ja, was soll man ihnen raten?

00:28:21: Eltern haben natürlich und müssen auch an erster Stelle ihr

00:28:25: eigenes Kind im Blick haben. Ich kann sehr gut verstehen,

00:28:28: dass Eltern sich dann vor dem Hintergrund dieser ungenügenden

00:28:32: Ausstattung in Baden-Württemberg für die Sonderschulen entscheiden.

00:28:37: Das kann ich sehr gut verstehen. Ich glaube, man kann aber

00:28:41: Solidargemeinschaften bilden, wenn man es einfach regional versucht.

00:28:46: Es ist eigentlich nicht Aufgabe der Eltern.

00:28:47: Es ist fast eine Zumutung, wenn ich das jetzt formuliere,

00:28:51: aber es ist, glaube ich, der einzige Weg im Moment,

00:28:54: wenn man eben regional versucht sich zu vernetzen.

00:28:58: Gerade bin ich auch kontaktiert worden von Personen,

00:29:03: die beteiligt waren an der Prüfung des Aktionsplans für den

00:29:07: Bereich Kindergarten. Und ich muss sagen: Dieses

00:29:11: Ergebnis, was man da hatte, dass Baden-Württemberg vorbildlich ist,

00:29:15: das lässt sich weder empirisch noch sonst irgendwie halten.

00:29:20: Wir sind auch im Kindergarten-Bereich nicht gut entwickelt, was Inklusion

00:29:23: anbelangt. Von daher ist es wichtig, bereits im Kindergarten

00:29:28: und vorschulischen Bereich eben Institutionen zu finden für das Kind

00:29:34: und dann eben nach anderen Eltern zu gucken und auch immer wieder in

00:29:38: Kontakt zu kommen mit den Eltern der sogenannten nicht behinderten Kinder,

00:29:42: um einfach Aufmerksamkeit dafür zu bekommen, warum man eigentlich

00:29:47: für diese inklusive Bildung steht, was man sich darunter vorstellt.

00:29:52: Ich habe das vor vielen Jahren in Bayern erlebt:

00:29:57: Da hat eine Mutter einfach eingeladen, zwei Referentinnen,

00:30:01: mich als Wissenschaftlerin und eine Mutter aus Bonn-Beuel,

00:30:05: deren Kind mit Downsyndrom bereits in den 80er-Jahren inklusiv an einer

00:30:09: Gesamtschule beschult worden ist, um Aufklärungsarbeit zu leisten.

00:30:14: Heute kann man so was ja auch digital organisieren, also

00:30:17: da muss dann Frau Merz-Atalik (lacht) nicht mit der Bahn anreisen - oder ein anderer Referent.

00:30:22: Also ich denke, das ist ganz wichtig. Denn es ist auch ein

00:30:25: Problem, das, denke ich, in Baden-Württemberg besteht: dass

00:30:31: wir zu wenig Öffentlichkeitsarbeit für das Thema haben.

00:30:34: Also wir hören sehr oft von negativen Beispielen in der Zeitung.

00:30:39: In der Tagespresse liest man mal von einzelnen Kindern, Einzelfallbeispielen,

00:30:43: wo Eltern sich engagiert haben und so, aber es gibt keine

00:30:47: systematische Öffentlichkeits- arbeit für dieses Thema. Und das bräuchte es.

00:30:52: Wir haben ja schon Schulen, die auch schon gute Wegeschritte in

00:30:56: die richtige Richtung gemacht haben, die gute Projekte entwickelt

00:30:59: haben oder sich selbst schon als inklusive Schule verstehen.

00:31:04: Und diesen Schulen wünsche ich mehr Öffentlichkeit.

00:31:07: Und das wäre ein Ansatzpunkt, dass man versucht, regional sich

00:31:10: zu vernetzen mit anderen Eltern und eben auch regionale Akteure

00:31:16: versucht, einzubinden in solche Prozesse. Das gibt es auch.

00:31:20: Zum Beispiel in Reutlingen gibt es so einen Arbeitskreis Inklusion,

00:31:24: wo Eltern sich treffen mit Lehrkräften, mit anderen,

00:31:28: einfach um sich zu vernetzen und sich starkzumachen für das Thema.

00:31:32: Aber wie gesagt, eigentlich ist es nicht Aufgabe der Eltern.

00:31:36: Simone Fischer: Und es würde, finde ich, unabhängig jetzt von wem es kommt ...

00:31:41: Also ich bin ganz Ihrer Meinung, dass die Eltern nicht in der

00:31:44: Verantwortung sind. Aber es würde allgemein doch

00:31:48: auch ein Stück weit helfen, die Entwicklung, den Ort Schule eben nicht

00:31:53: mit Leistungsdruck zu verbinden, sondern die Schule als Lebens- und

00:31:59: Teilhaberaum, Sozialraum auch zu ebnen. Dass das die Chance ist, auch für

00:32:05: Kinder mit oder ohne Behinderungen, überhaupt für Kinder.

00:32:08: Es sind ja auch immer diese Formulierungen: Es geht um Kinder.

00:32:13: Kerstin Merz-Atalik: Ich habe das gerade unlängst in einem Vortrag von

00:32:18: einem Kollegen aus Australien gehört, der gesagt hat: Die Strukturen

00:32:23: in der Industrie... in den Industrie- nationen wurden

00:32:25: zugrunde gelegt im Bereich Bildung: sortieren, etikettieren und Werte

00:32:35: vergeben für bestimmte Abschlüsse. Und das ist mir noch nie so bewusst

00:32:40: geworden, wie, als ich diesen Vortrag gehört habe. Und es

00:32:45: entspricht eigentlich nicht mehr unserer heutigen Gesellschaft,

00:32:48: so zu denken. Bildung geht weit über diese

00:32:52: schulische Bildung hinaus, die Bildungsabschlüsse vermittelt,

00:32:56: die zu irgendwelchen Berufseinstiegsmöglichkeiten in der Wirtschaft

00:33:01: oder in anderen Bereichen führt. Und wir müssen stärker noch ...

00:33:05: Wir merken es im Moment: Wir haben ein Defizit an Pflegekräften,

00:33:09: wir haben ein Defizit an jungen Menschen, die sich vorstellen können,

00:33:15: in erziehende oder soziale Berufe zu gehen.

00:33:18: Das sind aber alles Fähigkeiten und Fertigkeiten,

00:33:20: die sich in keinem Zeugnis abspielen. Warum wird niemand ...

00:33:25: Warum gibt es in unseren Schulen nicht Unterrichtsfächer,

00:33:28: die sich auch mit solchen Fragestellungen befassen?

00:33:31: Und warum werden die nicht auch bewertet?

00:33:33: Umso früher wir eben auch eine Generation von Menschen,

00:33:37: die in diesen sozialen, medizinischen oder Pflegeberufen

00:33:40: arbeiten ... Oder Lehrerberufe: Wir haben ein Problem,

00:33:43: ausreichend Lehrer zu bekommen. Warum fördert man nicht auch

00:33:48: diese Bereiche unserer Gesellschaft schon bereits

00:33:51: früh im schulischen Spektrum? Und das wären natürlich dann

00:33:55: auch wiederum Bereiche für Schülerinnen und Schüler,

00:33:59: die vielleicht in den kognitiven Unterrichtsfächern, wo es eher

00:34:03: um kognitive Leistungen geht, sich nicht so beteiligen könnten,

00:34:07: aber wo deren Kompetenzen vielleicht sehr gut gefördert werden könnten.

00:34:15: Simone Fischer: Auf den Punkt gebracht: Wie sieht denn die ideale Schule aus?

00:34:19: Kurz und knackig, sodass alle Kinder miteinander gut

00:34:23: lernen und aufwachsen können? Kerstin Merz-Atalik: Ja, ich bin ja sehr viel

00:34:29: international unterwegs und an vielen Schulen.

00:34:32: Wenn Sie mich nach der idealen Schule fragen: Meine Studenten sind

00:34:36: dann auf den Exkursionen mit, und die gehen aus diesen Schulen raus

00:34:40: und lächeln. Die hätten Lust,

00:34:43: an diesen Schulen zu arbeiten. Warum? Weil alle,

00:34:47: die in der Schule arbeiten, diese Schule zu Wohlfühlräumen machen,

00:34:52: zu Kommunikationsräumen, zu Räumen, die die Werte einer

00:34:57: Gemeinschaft nicht nur in einem Unterricht vermitteln (lacht),

00:35:02: sondern eben auch leben. So eine Schule habe ich in

00:35:05: Island erlebt. In Island hat man

00:35:08: außerhalb von Reykjavik in einem Stadtteil eine Schule gebaut,

00:35:11: ins Zentrum eines Neubaugebiets. Sie ist in der Mitte und die Straßen

00:35:16: im Neubaugebiet gehen kreisförmig um diese Schule herum.

00:35:21: Und die Schule ist ein Begegnungszentrum für die

00:35:24: gesamte Gemeinde. Der Schulhof ist nicht nur ein

00:35:28: Pausenhof (lacht), sondern der Schulhof ist so gestaltet, dass Bewegungsangebote

00:35:33: für die Gemeinschaft da sind. Die Volkshochschule bietet ihre

00:35:37: Kurse an dieser Schule an. Am Nachmittag finden an

00:35:42: dieser Schule auch Angebote statt für Senioren in der Gemeinde.

00:35:47: Die Schwimmhalle, die zur Schule gehört, ist geöffnet

00:35:52: an bestimmten Zeiten am Tag für die Bewohner dieses

00:35:55: Einzugsgebiets. Also sie ist wirklich so etwas

00:35:59: geworden wie ein Zentrum für die Gemeinde.

00:36:02: Und das würde ich mir wünschen, dass eben die Vielfalt

00:36:07: des Einzugsgebietes einer Schule sich auch in der Schule widerspiegelt.

00:36:12: Dass die Schule eben sich auch als Bildungsauftrag über die

00:36:16: eigentlichen Schüler hinaus versteht, für die Gesellschaft und für die

00:36:21: Gemeinde. Und ja,

00:36:25: dass vielleicht auch ein bisschen mehr Kreativität zugelassen wird.

00:36:30: Dieses Denken, dass man einen Abschluss unbedingt

00:36:33: nach zehn Jahren schaffen muss, setzt sich jetzt leider bei

00:36:37: uns an der Hochschule fort. Also, dass unsere Studierenden

00:36:41: gucken, dass sie möglichst schnell ihre Module absolvieren,

00:36:44: ihre Prüfungen machen und überhaupt sich nicht mehr dieses Studium

00:36:49: zugestehen, in dem man auch mal sich selbst noch findet, in dem

00:36:54: man sich mal mit Themen befasst,die vielleicht nicht verwertbar

00:36:57: sind in einer Abschlussprüfung eines Masterstudiengangs, aber die

00:37:02: für einen selber wichtig sind. Also dass man Bildung wieder weiter

00:37:07: sieht und nicht nur abschlussorientiert - in der Schule und dann

00:37:12: eben auch hoffentlich wieder in anderen Bildungsinstitutionen.

00:37:16: Ich denke, die Schule könnte hier ein gutes Vorbild sein.

00:37:20: Simone Fischer: Ich danke Ihnen ganz herzlich für die Zeit und für die vielen,

00:37:24: vielen wichtigen Anmerkungen, die Schule als Lebensraum und

00:37:30: eben für alle zugänglich zu machen.

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