Folge 6 mit Manne Lucha, MdL, Minister für Soziales, Gesundheit und Integration
Shownotes
Die Beauftragte der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinde-rungen, Simone Fischer, spricht in der neuen Folge ihres Podcast „Beteiligung schafft Gesellschaft. Einfach Inklusion“ mit Manne Lucha, MdL, Minister für Soziales, Gesundheit und Integration. Er macht deutlich, dass Inklusion, Teilhabe und gesellschaftliche Vielfalt Themen sind, die hohe Priorität haben.
Der Einsatz für mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen, barrierefreie Gesundheitsangebote, individuelle Teilhabe- und Assistenzleistungen beim Wohnen und der Freizeit, die beispielsweise die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes erreichen sollen, sind Anliegen, die auf der Tagesordnung stehen.
Minister Lucha sagt: „Es geht um die komplette Umsetzung der gleichberechtigten Teilhabe und darum, das Bundesteilhabegesetz in seinem wirklich nutzerorientierten Sinne umzusetzen. Dabei handelt es sich um Nachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderungen, an deren Spitze der Gedanke der Selbstbestimmung und Assistenz steht. Zentral ist, dass jetzt nicht mehr nur ums Geld gefeilscht wird, sondern dass wir in Baden-Württemberg auch die entsprechenden Strukturen haben, damit Menschen mit Behinderungen individuelle und zeitgemäße Angebote erhalten und wir im besten Sinne ent-instutionalisiert sind.“
Das Persönliche Budget sei ein zentraler Baustein. Simone Fischer sagt dazu: „Menschen mit Behinderungen haben das Recht und wollen so selbstbestimmt wie möglich leben können.“ Beide plädieren dabei für ein gutes und erträgliches Maß an Bürokratie im Sinne der Betroffenen. Lucha sagt: „Wir brauchen dialogische Strukturen, um tatsächlich und zielgenau darauf zu achten, welche Unterstützung und welche Strukturen wir benötigen.“
Nichts über uns ohne uns‘ ist das Prinzip der UN-Behindertenrechtskonvention. Minister Luchas Botschaft lautet: “Ich ermutige alle, die wir für die Verbesserung der Lebensverhältnisse auf allen Ebenen arbeiten, nach diesem Grundsatz voranzugehen und die Interessen der betroffenen Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Wir alle arbeiten nicht zum Selbstzweck. Wir sind Dienstleister mit einem klaren Auftrag für die demokratische Gesellschaft.“
Im Gespräch berichtet Minister Lucha über seine ersten entscheidenden Begegnungen mit Menschen mit Behinderungen bei einer inklusiven Ferienfreizeit als Fünfzehnjähriger in Oberbayern. Diese und weitere Erfahrungen im Laufe seines Lebens hätten seine Haltung im Sinne der Gleichberechtigung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen geprägt. „Entscheidend ist wohl, sich immer wieder die Frage zu stellen: Was wäre jetzt, wenn ich das wäre mit einer Behinderung?“, so Manne Lucha, um die Stereotypen und Ängste in den Köpfen der Menschen zu beseitigen und konkrete Maßnahmen zur Veränderung zu erreichen. Derzeit überarbeitet die Landesverwaltung unter Federführung des Sozialministeriums und unter Beteiligung von Menschen mit Behinderungen erfolgreich den Landes-Aktionsplan für die Verbesserung der Teilhabe und Inklusion in Baden-Württemberg.
Simone Fischer fordert allgemein mehr Ermöglicher anstatt Bedenkenträger oder Bremser. Sie sagt: „Gesetze geben einen Rahmen vor, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt teilhaben und sich in unsere Gesellschaft auch selbst einbringen können. Dabei handelt es sich nicht um Sonderrechte, sondern um Nachteilsausgleiche. An manchen Stellen muss nachgebessert werden. Doch auch bei der Umsetzung der Gesetze, beispielsweise bei der Barrierefreiheit, dem Zugang zu Kita, Bildung, Arbeit und Einrichtungen der Gesundheitsversorgung ist noch viel Luft nach oben. Wir alle haben ein Recht auf anständige Voraussetzungen, um im Alltag gut klarzukommen, Besorgungen zu machen, die Kita oder Schule am Ort zu besuchen, der Arbeit nachzugehen, im Verein, der Kirche, bei Festen, dem Treffen mit Freunden im Café und bei der Arztsuche. Dabei braucht es auch zupackende Menschen, die erkennen, dass Inklusion Recht ist, dass sie Sinn macht und für den Einzelnen wie das Zusammenleben notwendig ist.“
Transkript anzeigen
00:00:01: Simone Fischer: Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich begrüße Sie zu einer neuen Folge
00:00:05: meines Podcast "Beteiligung schafft Gesellschaft. Einfach Inklusion".
00:00:10: Mit diesem Format möchte ich in Baden-Württemberg interessante
00:00:14: Gespräche führen. Gemeinsam mit meinen Gästen will
00:00:17: ich unterschiedliche Lebenswelten und Perspektiven bekannt, erlebbar,
00:00:21: greifbar, sichtbar und nahbar machen. Herzlichen Dank an meinen
00:00:26: heutigen Gast Manfred Lucha, Minister für Soziales, Gesundheit und
00:00:30: Integration in Baden-Württemberg. Lieber Herr Minister Lucha,
00:00:34: dass Sie sich trotz Ihres sehr vollen Terminkalenders heute die
00:00:37: Zeit genommen haben, zeigt, dass Behinderung, Inklusion und
00:00:41: gesellschaftliche Vielfalt Themen sind, die hohe Priorität haben.
00:00:45: Ich muss sie wohl niemanden in Baden-Württemberg vorstellen.
00:00:49: Manch einer oder manch einer wissen vielleicht nicht,
00:00:52: dass Sie über 30 Jahre in psychiatrischen Angeboten in der
00:00:56: Region Oberschwaben gearbeitet haben. Derzeit arbeiten wir in Baden-
00:01:00: Württemberg am Bundesteilhabegesetz. Die Landesregierung überarbeitet
00:01:04: zusammen mit Menschen mit Behinderung den Aktionsplan für die Verbesserung
00:01:08: der Inklusion in Baden-Württemberg. Lieber Herr Lucha,
00:01:11: Sie sind eine treibende Kraft auch in diesem Prozess.
00:01:14: Sie haben ausdrücklich alle Beteiligten in einer Botschaft dazu
00:01:18: aufgerufen, die Haltung nicht ohne uns über uns zu leben und diesen
00:01:22: klaren Weg gemeinsam mit der Landesregierung zu beschreiten.
00:01:26: Ich freue mich sehr, dass Sie heute da sind.
00:01:29: Manfred Lucha: Herzlichen Dank für die freundliche Einladung, liebe Frau Fischer.
00:01:32: Die Ehre ist ganz auf meiner Seite. Simone Fischer: Welche persönlichen Erfahrungen
00:01:37: und auch Begegnungen haben Sie denn im Alltag, im privaten
00:01:40: Bereich mit Behinderung oder eben, ja, mit Menschen mit Behinderung?
00:01:44: Manfred Lucha: Ja, meine erste entscheidende Erfahrung hatte ich als 15-Jähriger,
00:01:50: der in der verbandlichen kirchlichen Jugendarbeit 1976 eine der ersten
00:01:58: inklusiven Ferienfreizeiten von jungen Leuten mit und ohne
00:02:03: Behinderung im schönen Oberbayern, bei Reit im Winkl gemacht hatte.
00:02:09: Und im Prinzip da also das erste Mal ganz unmittelbar kennengelernt habe,
00:02:17: eben keine Sonderwege zu haben. Und ich komme aus Oberschwaben.
00:02:23: Meine Frau war jetzt 45 Jahre im Körperbehinderten Zentrum
00:02:27: Oberschwaben. Die Tochter arbeitet dort als Zivi.
00:02:30: Vor 40 Jahren mit den Menschen, die eben im KBZO ihre Ausbildung hatten,
00:02:37: die abends in der Szenekneipe, Räuberhöhle, in der ich bediente,
00:02:41: von uns begleitet wurden. Damals schon die Schwierigkeiten, wie gehen wir
00:02:48: miteinander auf die Toilette. Wahrscheinlich ist es das ganz
00:02:52: normale Leben und einfach sich immer vorzustellen:
00:02:57: Was wäre jetzt, wenn ich das wäre? Und ich glaube, das ist unsere
00:03:03: Triebfeder für eine vielfältige, barrierefreie Gesellschaft in
00:03:09: jeder Beziehung - mit oder ohne Behinderung.
00:03:12: Und es ist eigentlich mein Alltag, bis heute.
00:03:15: Simone Fischer: Das heißt nicht nur die Arbeit, sondern das Leben
00:03:17: in dem Zusammenhang hat sie auch geprägt.
00:03:20: Manfred Lucha: Vielleicht ist es so, vielleicht geht man ja auch in die Politik,
00:03:24: weil man diese Triebfeder hat. Ich meine, wir alle haben Privilegien.
00:03:29: Ich bin zwar ein Handwerkersohn, aber handwerklich eher ein bisschen unbegabt.
00:03:35: Ich habe eine brüchige Schulbiografie und darum musste ich Sprechingenieur
00:03:39: am Ende werden. Aber mit einer klaren Vorstellung einer zivilisierten,
00:03:45: gerechten Gesellschaft, die niemand im Stich lässt. Und ich glaube,
00:03:49: es ist ja so, wenn man viele Freunde hat, wenn ich ...
00:03:53: Gerade viele Freunde, die ich aus dem Körperbehinderten Zentrum hatten,
00:03:58: von denen auch in jungen Jahren, welche verstorben sind, weil sie
00:04:02: an Muskeldystrophie erkrankt waren. Feine, pfiffige, lebensfrohe Menschen,
00:04:09: wo ich immer denke, und mir nehmen uns sehr wichtig, wenn mal wieder irgendwas nicht
00:04:14: funktioniert. Also da bekommt man da
00:04:19: noch mal eine Horizonterweiterung. Simone Fischer: Das echte Leben.
00:04:23: Manfred Lucha: Das voll echte Leben. Liebe Frau Fischer Simone Fischer: Wie schaffen Sie denn das auch in
00:04:28: Ihrer jetzigen Berufung und Arbeit als Sozialminister, wo ja wirklich
00:04:32: sehr viele Themen in Ihrem Bereich - also nicht nur das Soziale -
00:04:35: Gesundheit, Integration, der gesellschaftliche Zusammenhalt
00:04:39: verankert ist, mit vielen Terminen, ja, mit vielen Gesprächen,
00:04:44: ja mit viel Arbeit, auch mit den Menschen wirklich in Kontakt zu sein
00:04:49: und zu bleiben, deren Lebenswelt ja auch ihre Arbeit berührt.
00:04:53: Manfred Lucha: Ja, in der Tat, es ist nicht jeden Tag ganz gleichweise leicht,
00:04:59: aber ich verhehle nicht, dass ich sehr viel Wert darauf lege, gern bei den
00:05:05: Leuten in ihren Lebenswelten zu sein, in ihren Institutionen.
00:05:11: Da hat uns jetzt die Pandemie ein bisschen behindert,
00:05:15: sind wir doch viel über die Kachel gegangen. Aber ich meine schon,
00:05:21: erinnern Sie sich, liebe Frau Fischer, als wir gemeinsam letzten Sommer
00:05:28: bei der Endrunde der Deutschen Meisterschaften im Blindenfußball
00:05:33: in Stuttgart ein unheimlich engagierter Bereich des MTV im
00:05:37: inklusiven Sport, auch wenn wir nur zwei Stunden Zeit hatte, wissen Sie,
00:05:44: das gibt mir Kraft oft für Wochen, weil ich daran denke,
00:05:47: was das für tolle Erlebnisse sind, welche Leute man da trifft,
00:05:51: mit wem man ins Gespräch kommt. Und ich glaube, das ist das ganz
00:05:55: Entscheidende in jedem Job. Ob Sie als Beauftragte der Belange
00:06:00: oder wir in einer exekutiven Verantwortung als Minister,
00:06:05: entscheidend ist unsere Geisteshaltung und auch immer
00:06:08: wieder Wert darauf zu legen, mit den Menschen und mit den Leuten
00:06:14: Kontakt zu bekommen, für die wir stellvertretend die Aufgaben haben.
00:06:20: Wir haben ja keinen Selbstzweck,
00:06:22: wir sind ja Dienstleister, wir haben einen klaren Auftrag für
00:06:26: die demokratische Gesellschaft. Simone Fischer: Wenn Sie denn einen Wunsch frei
00:06:30: hätten, Herr Minister, was wäre die erste Barriere, die Sie
00:06:32: sofort und mit hundertprozentiger Wirkung beseitigen würden?
00:06:37: Manfred Lucha: Also eine: Das sind die Stereotype in den Köpfen
00:06:44: und die Angst der Menschen. Das ist wirklich keine
00:06:51: und keiner zu werten ist. Und wenn jemand ein Handicap hat,
00:06:57: dann hat er das. Aber das muss ich erst mal nicht
00:07:00: bewerten, sondern die Schlüsse ziehen:
00:07:02: Was braucht er, dass er genauso mitmachen kann in der Gesellschaft
00:07:06: wie jeder andere auch, bis hin zu schwersten Beeinträchtigungen.
00:07:11: Keine Stereotype, keine Barrieren in den Köpfen der Menschen.
00:07:16: Das wäre mein größter Wunsch. Nicht nur bezogen auf Menschen mit Behinderung,
00:07:20: auch sexuelle Vielfalt, Glaubensvielfalt, Hautfarbe.
00:07:26: Einfach keine Stereotype. Simone Fischer: Dann wäre vieles einfacher.
00:07:31: Manfred Lucha: Ja, aber weil es nicht so ist, braucht es uns beide und andere,
00:07:34: viele Tausende, die mit uns täglich dafür arbeiten und ihren
00:07:38: bescheidenen Beitrag leisten, dass wir immer ein Stück einer gerechten
00:07:42: Gesellschaft immer ein bisschen ... wenigstens nicht weiter wegkommen,
00:07:47: sondern jeden Tag gleicherweise näher kommt.
00:07:51: Simone Fischer: Wenn ich es richtig weiß, sind Sie mit 18 Jahren bei
00:07:54: Bündnis 90/DIE GRÜNEN beigetreten und in die Politik eingetreten.
00:07:58: Haben Sie denn schon immer gewusst: Ich werde Politiker?
00:08:02: Manfred Lucha: Na ja, ich war immer schon der Überzeugung, dass für das,
00:08:07: was man gut findet, wo man auch selber privilegiert ist,
00:08:13: profitieren, dass man dafür was tun muss, weil es nicht vom Himmel.
00:08:19: Und es war damals in der Mitte der 70er, Ende der 70er Jahren, eben nach
00:08:26: dem berühmten Deutschen Herbst, wo ja noch '77 die RAF wirklich
00:08:32: brutale Morde gemacht hat, dann der Aufbruch der Ökologie,
00:08:36: der Antiatombewegung, auch der Friedensbewegung,
00:08:39: für mich auch die Jugendarbeit. Und dann witzigerweise,
00:08:44: weil ich ja unehrenhaft aus der Schule entlassen wurde,
00:08:47: aus dem Gymnasium, dann meine Chemie- ausbildung und bin quasi als Chemiewerker
00:08:53: gleichzeitig in den Süddeutschen Kalkstickstoff-Werken und den
00:08:58: Grünen eingetreten und mitbegründet. Ich habe dort Plakate geklebt,
00:09:04: als Harrisburg ausgebrochen war. Also das war eine spannende Zeit.
00:09:09: Und man hat dann auch ... Also aktiv sein war auch ein
00:09:16: Lebensgefühl. Simone Fischer: Hatten Sie denn damals die
00:09:18: gleichen Motivationen und auch Überzeugungen wie heute? Oder
00:09:22: verändert sich das auch? Manfred Lucha: Also ich glaube, dass ich im
00:09:26: Wertekontext tatsächlich gleichgeblieben bin in der Grundhaltung. Natürlich,
00:09:31: ich bin jetzt etwas über 40 Jahre älter,
00:09:35: als damals, da kommt Lebenserfahrung dazu.
00:09:39: Ich war am Anfang bei den Grünen. Ein Fundi ist ein Realo,
00:09:44: aber ich glaube, es kommt halt mit dem Älterwerden dazu.
00:09:48: Am Anfang muss man, glaube ich, sehr fundamental sagen,
00:09:53: was einen bewegt und mit dem Älterwerden und der Lebenserfahrung heute auch
00:09:59: Konzepte zur Umsetzung. Insofern bin ich mir gleichgeblieben
00:10:03: und ich hoffe, ich habe mich aber mitentwickelt. Simone Fischer: An welcher Stellschraube können
00:10:09: Sie dann wirksam im Sinne der Inklusion drehen, also so,
00:10:12: dass es für die Bürgerinnen und Bürger auch wirklich wahrnehmbar ist?
00:10:17: Manfred Lucha: Ich glaube zum Beispiel, dass ich vorschlagen konnte und
00:10:22: durfte, Frau Simone Fischer zur Beauftragten für die Belange von
00:10:27: Menschen mit Behinderung zu benennen, um zu zeigen -
00:10:32: und ich zitiere jetzt Frau Fischer - es geht nicht nur um Teilhabe,
00:10:36: sondern auch um Teilhabe. Natürlich werde ich mit in der
00:10:40: Umsetzung der gesetzlichen und Verordnungsgrundlagen.
00:10:43: Da, wo wir Barrieren abbauen müssen, da, wo Hilfen für Menschen mit
00:10:50: Behinderung früher von einem sicher berechtigten Fürsorgegedanken jetzt zum
00:10:56: Freiheits- zur Teilhabegedanken, neudeutsch zum Partizipations-
00:11:00: gedanken umgebaut werden. Also auch dafür,
00:11:04: Rahmenbedingungen zu schaffen. Selbstverständlich auch,
00:11:07: indem man auch Geld gibt, um solche selbstbestimmten
00:11:11: Lebensmodelle zu ermöglichen. Ich habe auch noch ein großes Ziel,
00:11:17: dass Menschen mit Behinderung im Prinzip komplett
00:11:21: sozialversicherungspflichtige Arbeit erhalten, egal in welcher
00:11:25: Organisationsform, ob in einer gemeinnützig organisierten oder
00:11:31: in der gewerblichen Wirtschaft. Also ja, genau, das wären ein paar
00:11:37: Punkte, da kann man mithelfen. Ich habe einige Koalitionsverträge
00:11:41: mit verhandeln dürfen. Und ich glaube schon,
00:11:44: dass wir dort auch Zielsetzungen formuliert haben, die für die
00:11:48: Menschen einfach Verbesserungen auf dem Weg der Inklusion voranbringen.
00:11:58: Simone Fischer: Wo stehen wir denn in Baden- Württemberg im Jahr 2030 mit
00:12:02: der Umsetzung der UN- Behindertenrechtskonvention, wenn
00:12:06: Sie sich auch da wünschen könnten? Manfred Lucha: Also die komplette Umsetzung des
00:12:12: Bundesteilhabegesetzes in seinem wirklich nutzerorientierten Sinne.
00:12:19: Und dass es wirklich darum geht, dass es ein Nachteilsausgleich ist,
00:12:23: dass der Assistenzgedanke steht, der Selbstbestimmungsgedanke.
00:12:29: Dass wir auch nicht mehr nur ums Geld feilschen müssen, sondern auch die
00:12:32: entsprechenden Strukturen haben, dass wir im besten Sinne -
00:12:36: und das meine ich positiv - institutionalisiert sind.
00:12:41: Da ist noch ein weiter Weg, dass wir mehr Menschen, dass wir wirklich
00:12:46: auch die Sozialversicherungspflicht, was in diesem Fall ein
00:12:51: Sozialversicherungsrecht ist, dass wir generell materielle und
00:12:56: ideelle Sicherheit in gleicher Weise geben können.
00:13:00: Aber auch, dass wir die Menschen mit ganz
00:13:04: hohen pflegerischen und teilhabe- orientierten Hilfebedarf, dass die
00:13:11: nicht auf der Strecke bleiben. Also dass wir auch diesen
00:13:14: Personenkreis ganz individuell betrachten. Und dass sehr viel in
00:13:20: selbstbestimmten quartiers- bezogenen Lebenswelten, Wohnwelten
00:13:24: stattfinden kann. Simone Fischer: Ich erinnere mich, Sie sind ja von
00:13:27: Beginn an oder von jeher schon, seit ich Sie auch erlebe und kenne,
00:13:31: jemand, der sich sehr stark für das persönliche Budget und den
00:13:35: Assistenzeinsatz eben stark macht und auch dafür mit an
00:13:39: Strukturen gearbeitet hat. Und wenn ich mit Menschen spreche,
00:13:43: die das persönliche Budget nutzen, dann höre ich, wie froh sie auch
00:13:49: sind, eben in dieser Form der Selbstbestimmung leben zu können.
00:13:53: Natürlich, wie es auch an manchen Stellen noch Bedarf gibt,
00:13:57: nachzubessern, was die Bürokratie betrifft oder auch die Verantwortung,
00:14:02: die sie natürlich damit haben. Das ist noch mal ein Punkt,
00:14:04: der auch immer angemerkt wird. Aber im Vordergrund steht immer
00:14:07: auch die Möglichkeit, so selbstbestimmt leben zu können,
00:14:11: wie ich es mir wünsche. Manfred Lucha: Also wir,
00:14:17: obwohl wir im Süden sind, wir sind ja schon
00:14:20: typisch german, nicht wahr? Und natürlich sind wir alle froh,
00:14:25: dass wir auch eine gute - im guten Sinne - bürokratische
00:14:28: Ordnung der Dinge haben. Ich kann Ihnen aus meiner NGO-Welt,
00:14:35: Engagement auf Haiti sagen, wirklich,
00:14:40: die Zerstörung der Gesellschaft dort hat auch begonnen,
00:14:43: weil es keine Ordnung der Dinge gibt. Aber gleichzeitig sind wir immer
00:14:49: auch geprägt. Also der erste Deutsche ist der
00:14:53: Missbrauch, Angst, dass jemand was ausnützen
00:14:57: könnte, dass jemand mehr bekommt als ein anderer und dass es
00:15:01: vergleichbar sein muss. Da müssen wir uns ein bisschen
00:15:04: freimachen. Wir brauchen mehr Mut zum individuellen
00:15:07: Betrachten und wir brauchen in der Tat auch positive
00:15:11: Verantwortungsgemeinschaften. Und ich glaube schon, das ist ja das Motto
00:15:18: - das klingt ein bisschen abgedroschen - "Nichts über uns - ohne uns!"
00:15:25: Und ich zitiere mal den psychisch
00:15:28: kranken, großen Schweizer Schriftsteller Robert Walser,
00:15:33: nicht zu verwechseln mit dem gerontoerotischen Autor
00:15:39: Martin Walser vom Bodensee, den ich manchmal eher kritisch sehe in
00:15:43: seiner narzisstischen Strömung. Aber Robert Walser hat einmal gesagt:
00:15:48: Jeder, der gläubte zu wissen, was ich denke, dem untersage ich das.
00:15:53: Und ich glaube, ich kann mich noch erinnern, als ich mit den Vertretern
00:15:58: der Wohlfahrtsverbände, die ja wirklich in guter Motivlage handeln,
00:16:03: aber eben glauben, dass sie wissen, was den Menschen guttut.
00:16:08: Und ich glaube, das ist auch das, was ich auch immer sage,
00:16:11: es ist der falsche Trigger des Fürsorgestaats zu glauben,
00:16:15: der sorgende Staat wisse, was für das arme Sünderlein Bürger gut wäre
00:16:21: Wir brauchen eben dialogische Strukturen, um tatsächlich und
00:16:25: nicht mit der Gießkanne - wer mich kennt, weiß,
00:16:29: dass ich kein Gießkannenfreund bin - sondern ganz zielgenau zu achten,
00:16:33: welche Unterstützung, welchen Strukturen brauchen wir?
00:16:37: Die können wir nicht nur mit Einzelleistung zahlen.
00:16:40: Und was braucht die Einzelne für ihre individuelle Assistenz und
00:16:45: Budgetgestaltung, dass sie in dieser Gesellschaft selbstbestimmt
00:16:50: leben und arbeiten kann. Simone Fischer: Wie motivieren Sie denn
00:16:53: andere Politikerinnen und Politiker, auch Inklusion und Barrierefreiheit
00:16:58: immer mitzudenken? Können wir denn das miteinander
00:17:02: auch schaffen, da noch andere Bereiche zu erreichen? Manfred Lucha: Ja!
00:17:05: Das sehen Sie! Ich glaube, wenn ich das sagen darf, Ihr Besuch in der größten
00:17:11: Regierungsfraktion hat doch auch einem Ministerpräsidenten wirklich
00:17:16: eine sehr, sehr empathische und auch wirklich reflektierte
00:17:22: Reaktion hervorgerufen. Ich glaube wirklich,
00:17:25: dass wir jeden Tag mit unserem Tun motivieren können.
00:17:32: Klar, es geht immer um Ressourcen, es geht um Geld.
00:17:35: Es geht um auch um Organisationsformen.
00:17:41: Aber die Sensibilität ist im Übrigen auch nach der Pandemie,
00:17:47: weil wir ja auch Menschen mit Behinderungen extrem viel zugemutet
00:17:52: haben. Weil wir die in besonderer Weise Kontakteinschränkungen,
00:17:56: die zur Bekämpfung des Virus ja wichtig waren, aber die natürlich
00:18:02: sozial und auch von eigenen Entwicklungen und notwendigen
00:18:07: Innervierung durch Resonanz im sozialen und gesellschaftlichen
00:18:12: Raum deutlich eingeschränkt wurden. Dass wir das auch gelernt haben,
00:18:16: das zu vermeiden. Und dass wirklich Kontakt und soziales Leben mehr
00:18:23: denn je, sei es in Schule, sei es am Arbeitsplatz,
00:18:26: geschützt oder nicht geschützt, ich glaube, es ist ganz wichtig.
00:18:31: Simone Fischer: Ja, dass die Menschen auch da wieder sichtbar sind und ja doch
00:18:35: wieder teilhaben können. Es war schon, wie Sie es beschrieben haben
00:18:38: eine harte Zeit für uns alle, als Gesellschaft. Manfred Lucha: Auch die Familien,
00:18:44: die auch zusammenleben, wo auch unterstützende und
00:18:48: pflegende Angehörige sind, die sind schon an ihre Grenzen gekommen.
00:18:52: Simone Fischer: Jetzt habe ich eine ganz andere spannende Frage.
00:18:55: Eine Lebenshilfe in Baden-Württemberg hat vor einiger Zeit ein Fotoprojekt
00:18:59: gemacht: Ein Bodypainter hat deren Klientinnen und Klienten
00:19:03: entsprechend der kühnsten Träume und Wünsche bemalt und heraus kam
00:19:08: zum Beispiel Superman, Bibi Blocksberg oder auch eine Meerjungfrau.
00:19:13: Was wäre denn Ihr Bodypaint? Was würden Sie sich wünschen zu sein?
00:19:17: Und warum? Manfred Lucha: Dies ist also eine der schwersten
00:19:21: aller Fragen, weil sagen wir mal so, am Schluss ist auch Superman
00:19:28: kommt auch an seine Grenzen. Ich glaube, ich möchte der bleiben,
00:19:33: der ich bin und eher in dem Bild immer auch wieder mit mir selbstkritisch
00:19:38: und ehrlich umgehen zu können. Vielleicht ist es so ein
00:19:43: symbolisches Bild, dass man nicht eingerostet und
00:19:48: nicht zu selbstgefällig wird. Simone Fischer: Ein super Boodypainter kriegt
00:19:53: auch das hin (lacht). Welcher Punkt im Koalitionsvertrag
00:19:58: ist denn der, der für Sie auch am dringlichsten ist, den Sie in
00:20:01: Ihrer Amtszeit umsetzen möchten? Manfred Lucha: Also ich möchte tatsächlich jetzt
00:20:06: die Umsetzung des BTAG, des Landesrahmenvertrags,
00:20:10: die Barrierefreiheit und dann in Kombination mit dem (.....)
00:20:15: das ist ja auch der ... - wir haben ja binnen eines knappen Jahres
00:20:19: zwei Koalitionsverträge verhandelt und ich durfte ja bei beiden mitverhandeln -
00:20:23: wirklich den Weg zur barrierefreien Beschäftigungsgesellschaft.
00:20:28: Ich halte den Zugang zu Arbeit und Beschäftigung für sehr wichtig.
00:20:33: Und ein weiterer Punkt, der ja nicht im Koalitionsvertrag, aber der uns
00:20:37: wahnsinnig herausfordert, ist, die sogenannte Schwerbehindertenquote
00:20:41: endlich wieder zu erfüllen, als öffentlicher Arbeitgeber,
00:20:45: als Land Baden-Württemberg? Simone Fischer: Ja, da sind ja viele auch aufgerufen,
00:20:50: in dem Zusammenhang mitzuhelfen. Gibt es sonst noch etwas,
00:20:54: was Sie sagen: Das steht jetzt nicht im
00:20:55: Koalitionsvertrag drin. Das ist etwas, das ich noch nicht
00:20:58: geschafft habe. Da bin ich dran. Manfred Lucha: Ja, das sind die Punkte,
00:21:01: über die wir eigentlich gesprochen haben: Selbstbestimmung,
00:21:05: selbstbestimmtes Wohnen, Leben, Arbeiten, normale Kontakte,
00:21:10: Mobilität, barrierefreie Mobilität, barrierefreie soziale Mobilität,
00:21:16: digitale Mobilität, dann die Stärkung der
00:21:19: Selbstvertretung. Ich ich war da sehr ... Ich war fast ein bisschen
00:21:26: berührt die Vielfalt des neuen Landesbehindertenbeirats mit
00:21:32: den jeweiligen Vertretungen genau diese Engagements zu stärken.
00:21:37: Die Selbstvertretungsrechte, auch die Strukturen.
00:21:42: Wir wollen ja auch gemeinsam das Landesbehinderten-
00:21:44: gleichstellungsgesetz jetzt mal anschauen und noch besser machen.
00:21:50: Und auch vor Ort mit ihren Ansprechpartner*innen.
00:21:55: So einfach jeden Tag ein Stückchen weiter sensibilisieren.
00:22:00: Weil ich glaube tatsächlich, und das ist meine feste Überzeugung,
00:22:07: eine Gesellschaft, die diese Aufgabe exemplarisch solidarisch löst,
00:22:14: wird viele andere Aufgaben auch exemplarisch solidarisch lösen,
00:22:20: weil diese Lernwelt, diese Lernkurve ist übertragbar,
00:22:25: sie ist eine Blaupause. Simone Fischer: Was wünschen Sie sich denn für die
00:22:30: Gesellschaft in Baden-Württemberg? Manfred Lucha: Am allermeisten wünsche ich mir, dass
00:22:35: dieser brutale Krieg in der Ukraine doch irgendwie so zu Ende geht.
00:22:43: Dass die Putins dieser Welt zurückgedrängt werden können.
00:22:49: Weil davon wahnsinnig viel weltweit abhängt in der globalen
00:22:54: Gerechtigkeit. Und dann wünsche ich mir tatsächlich,
00:22:59: dass wir die ökologisch, soziale und auf Vielfalt und Gleichberechtigung
00:23:06: ausgelegte Gesellschaftsordnung, am besten ohne Pandemie - ich bin ja
00:23:12: auch noch der Pandemieminister - dann wieder ordentlich kräftig gestalten können.
00:23:18: Simone Fischer: Ja, vielen Dank, Herr Minister, für dieses spannende, abwechslungsreiche,
00:23:23: offene Gespräch und für Ihren ganzen Einsatz auch für Menschen mit und
00:23:28: ohne Behinderung in unserem Land. Manfred Lucha: Ich kann den Dank nur zurückgeben,
00:23:32: liebe Frau Fischer, ich freue mich a) immer, wenn wir uns begegnen und b)
00:23:37: einfach, dass die richtige Frau am richtigen Platz sitzt.
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